Zum Geleit
Inneraventurische Umwälzungen sind ein heikles Thema, und wenn sogar ganze Städte im Dienste von Abenteuern dem Erdboden gleichgemacht werden, ist dies meist Nährboden für Empörung, Autorenverwünschungen und lebhaft bekundete Wechselfantasien. Aus aktuellem Anlass möchte ich uns daher zum Beginn dieser Rezension das sinnfreieste Ingame-Gemetzel aus 30 Jahren DSA-Geschichte in Erinnerung rufen, das im aventurischen Jahr 1027 BF stattfand und G.R.R. Martins red wedding wie eine leicht außer Kontrolle geratene Hochzeitspolonäse erscheinen lässt. Damals wurde kurzerhand das gesamte Nostria Witzkoscher Prägung mittels Blauer Keuche ausradiert, inkl. Prinz Kasparbald, eines der sympathischsten NSCs aller Zeiten. Ungeachtet aller Meriten, die sich die hierfür Verantwortlichen anderweitig um DSA erworben haben, muss ich mich bis heute sehr gründlich an meine gute Kinderstube erinnern, um beim Gedanken an den nostrischen Exitus nicht das alte YPS-Voodoo-Toolkit vom Dachboden zu holen.
Der offizielle Grund für das Gemetzel war, dass die Region einsteigerfreundlicher gestaltet werden und weniger von dem enthalten sollte, was nach Maßgabe des Humorverständnisses der Verantwortlichen als albern galt. Immerhin war auch das andergaster Geschmeiß zuvor schon einer einigermaßen hanebüchenen Umgestaltung unterzogen worden. Ob doppelte Einsatz der Brechstange tatsächlich dazu geführt hat, dass beide Länder inzwischen als Einsteigerregionen beliebt sind, kann ich nicht beurteilen. Wirklich weit haben sich die streitenden Königreiche aber auf jeden Fall nicht von den Klischees entfernt, mit denen sie zuvor angeblich überfrachtet waren, so dass zumindest in dieser Hinsicht die brachiale Umgestaltung eher für die Katz war. Andergast ist schließlich immer noch genau so hinterwäldlerisch wie zuvor, hatt dafür nun aber eine horasische C-Prominenz als König, die auf den Thron passt wie Schwein auf Sofa. Nostria hingegen hat zwar noch dieselben skurrilen staatlichen Strukturen wie vorher, aber leider so gut wie niemanden mehr, der sie ausfüllen kann, und ist zudem um die wichtige Dimension der Tragikomik ärmer geworden, die in K.H. Witzkos Nostria ein wesentlicher Bestandteil des Settings war.
Angesichts der nahenden Regionalspielhilfe zu Nostragast ist nun nach Jahren des Stillstands die nächste Umgestaltungsphase der Region im Gange, die den zukünftigen status quo festschreibt. Dies scheint deutlich behutsamer vonstatten zu gehen als in der Vergangenheit. Neben einigen Artikel im Aventurischen Boten und der Schwarze-Eiche-Trilogie hat auch der Roman Mehrer der Macht von Carolina Möbis hieran einen nicht unerheblichen Anteil, denn so manche Änderung, die bereits im Aventurischen Boten angedeutet wurde, wird hier untermauert und ergänzt.
Worum geht’s ? – Einige Schlaglichter
In Andergast werden die Karten der Macht neu gemischt. Prinz Wendelmir, ein waschechter Zornbold, der in der Thronfolge allerdings hinter dem eingeheirateten und glücklosen Efferdan rangiert, muss hierfür aber seinen laxen Lebenswandel unter Kontrolle bekommen und sich für neue Aufgaben rüsten. Das heimliche Zentrum des Romans sind die namensgebenden Sumen (Druiden), die in Andergast erfolgreich intrigieren – der junge Druide Melanor mittendrin. Eine andergaster Hofdame versucht sich ebenfalls an einer Kabale, und der Söldner Helmbrecht gerät stetig zwischen die Fronten. Ein gefürchteter Raubritter treibt derweil ein doppeltes Spiel, ebenso wie der nostrische Graf Albion. Königin Yolande hingegen muss endlich lernen, sich durchzusetzen und schwierige Entscheidungen treffen, um ihr Reich zusammen zu halten, während am Horizont ein neuer Konflikt mit dem Erzfeind aufzieht. Die Tierkönige von Hirsch und Ochse spielen bei alldem eine nur schwer zu durchschauende Rolle im Hintergrund des Geschehens.
Lob und Tadel
Soweit also in aller Kürze zum Inhalt des Romans. Im Folgenden werde ich kurz darlegen, worin ich die besonderen Stärken und Schwächen sehe. Im Sinne des 8×8-Formats (Details siehe hier) gibt es dafür acht unterschiedliche Kategorien, in denen jeweils maximal acht Lilien zu holen sind. Eine Gesamtwertung folgt im Fazit.
Aventurisches Flair und Einbindung in den Hintergrund
Ich hatte nie das Gefühl, einen x-beliebigen Fantasy-Roman zu lesen – die hier erzählte Geschichte kann so nur in Aventurien spielen. Widersprüche zu Hintergrundsetzungen sind mir keine aufgefallen, und gerade im Kleinen zeigt sich der Aventurienbezug in vollem Ausmaß. Die Andergaster des Romans sind dämliche, rückständige und chauvinistische Hinterwäldler, was als maximal hintergrundtreu besonders hervorsticht. Die Mehrer der Macht werden erfreulicherweise als gleichermaßen selbstbewusste wie erfolgreiche Strippenzieher im Hintergrund portraitiert. Nostria fühlt sich solide nostrisch an, nur ein zumindest sparsam dosiertes affektiertes Palaver fehlt mir hier. Die Verhältnisse am nostrischen Königshof scheinen mir treffend charakterisiert. Alles in allem sind die Nostrier im Vergleich zu den Andergastern deutlich sympathischer gezeichnet, und auch das nostrische Gemüsebier wird angemessen gewürdigt. Das Andergast-Flair wird dafür insgesamt etwas besser vermittelt, und Nostria bleibt im Vergleich hierzu etwas blass, so dass ich in dieser Kategorie 7 von 8 Lilien vergebe.
Charakterdarstellung
Der Roman bietet ein abwechslungsreiches, interessantes und überwiegend glaubhaft dargestelltes Personal, auch wenn ein echter Sympathieträger fehlt. Am ehesten kommt dem noch Königin Yolande nahe, die ebenso wie die legendäre Rondriane von Sappenstiel im Roman aber zu kurz kommt, um diese Rolle ganz ausfüllen zu können. Graf Albio von Salza fand ich in seiner feisten Dreistigkeit dafür besonders gut getroffen. Prinz Wendelmir hingegen ist die totale Flachzange, der man bereits nach zwei Szenen die horasische Krankheit an den Hals bzw. in den Schritt wünscht. Die andergaster Hofdame Silvana erinnert in ihrem Missverhältnis von Anspruch zu Können ein wenig an Cersei Lannister im Schweinetrog, Söldner Helmbrecht gibt den leicht zu manipulierenden tumben Tor, der als POV-Charakter für mich aber nicht so richtig zur Geltung kommt und v.a. eine Perspektive bildet, aus der die Handlungen anderer geschildert werden. Der Sume Melanor ist ursprünglich ein leidlich sympathischer Lehrling, dessen Entwicklung im Roman für mich aber etwas zu plötzlich kommt. Somit: 6 von 8 Lilien.
Konzeption und Plotgestaltung
Bis auf die sehr abrupte Charakterentwicklung des jungen Druiden und das geheimnisvolle Verhalten der Tierkönige ergibt sich die Handlung für mich schlüssig und nachvollziehbar, und ich hatte an keiner Stelle den Eindruck, den Faden zu verlieren. Streckenweise hat der Plot (oder eher: der bunte Strauß von Plotsträngen) allerdings auch Längen, denn nicht jedes Detail oder jeder ausgebreitete Dialog ist für die Entwicklung der Handlung oder die Stimmungsgestaltung wichtig. Insgesamt schenkt der Roman in der Darstellung Nostria für mein Empfinden zu wenig Aufmerksamkeit, und insbesondere die sich langsam emanzipierende Yolande kommt in der Darstellung im Vergleich zum unleidigen Antipathen Wendelmir zu kurz. Daher: 5 von 8 Lilien.
Schreibstil
Der Roman liest sich überwiegend angenehm, schlimme Stil-Peinlichkeiten gibt es erfreulicherweise keine. Der Text ist angenehm schnörkellos geschrieben, und da, wo es Längen gibt, liegt das nicht an der Art der Präsentation. Allerdings gibt es auch nur wenig Sätze oder Dialoge, die mir nachhaltig in Erinnerung blieben, und hier und da war ich mit der konkreten Wortwahl der Erzählerinstanz nicht immer ganz glücklich, da diese für meinen Geschmack ruhig etwas aventurisch geprägter ausfallen darf. Das reicht noch für 5 von 8 Lilien.
Korrektorat
Die formale Gestalt des Texts fällt solide aus. Die Kommasetzung erweist sich streckenweise jedoch als Schwachpunkt, was mich als syntaxsensiblen Leser auf Dauer stört und zwei Blumen verwelken lässt. Da mir Buchstabendreher, Satzbaugrütze, Wortdopplungen und dergleichen mehr aber nicht untergekommen sind, bleibt es bei 6 von 8 Lilien.
Spannung
Das Buch stellt keine ernsthafte Gefahr für die Nachtruhe da, denn Spannungsaufbau gehört nicht zu seinen besonderen Stärken. Mitunter hatte ich beim Lesen sogar eher den Eindruck, einen stimmungsvollen Hintergrundbericht zu lesen, bei dem die Entwicklung der Handlung zur Nebensache gerät. Der Plot selbst dürfte niemanden fesseln, den die Streitenden Königreiche und ihre zukünftige Entwicklung kaum oder nur am Rande interessieren. Alle anderen dürften aber genug Motivation aufweisen, um auch die eine oder andere Hängepartie zu überstehen. Mit Blumen gesagt: 4 von 8 Lilien.
Das gewisse Etwas
Hier kann der Roman nun aber erneut punkten. Denn zum einen liegt der Fokus auf einer schönen und stiefmütterlich behandelten Region Aventuriens, so dass man beim Lesen zahlreichen Personen über die Schulter gucken kann, die sonst nicht im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Auch Druiden als Mittelpunkt der Handlung und Protagonisten sind nicht alltäglich, und mit Melanor könnten wir sogar einen potentiellen Nachfolger von Archon Megalon gefunden haben. Die Darstellung von Ränkespielen und Kabalen ist als Romanthema zwar wahrlich nichts Neues, aber der hiesige Intrigantenstadl stellt so etwas wie die Dorfschulzen-Variante von Game of Thrones dar, was man auch nicht alle Tage zu Lesen bekommt. Die Autorin versucht erfreulicherweise auch gar nicht erst, dabei mehr Glanz und Fallhöhe zu suggerieren, als tatsächlich vorhanden ist, ohne dass das Geschenen hierdurch albern oder belanglos würde. Das scheint mir eine reife Leistung, wofür es mit 7 von 8 Lilien fast die maximale Ausbeute gibt.
Material für den eigenen Spieltisch
Eine weitere Stärke des Romans besteht darin, dass er zahlreiche Anregungen für die eigene Spielrunde bereithält. Wer etwa verschiedene der offiziellen Figuren einmal im eigenen Aventurien einsetzen will, der kann sich hier reichlich Inspiration abholen. Hinzu kommt, dass sich viele Szenen – und, wenn man wollte, sogar weite Strecken der Handlung – auch gut als Abenteuer adaptieren lassen. Insbesondere die grandiose und schreiend komische Szene im Räuberlager kann ich hierfür nur jedem Leser wärmstens ans Herz legen. Dafür gibt es ebenfalls 7 von 8 Lilien.
Fazit
Mit Mehrer der Macht hat Carolina Möbis einen mehr als ordentlichen DSA-Romaneinstand gefeiert, und insgesamt kommt der Roman auf einen Durchschnittsstrauß von 6 Lilien, den wir der Autorin hiermit virtuell überreichen. Besonders geeignet dürfte er für Fans von Hintergrundmaterial zu Nostragast, nostrische Patrioten und Freunde der Sumen sein. Eher die Finger von Buch lassen sollten hingegen Leser, die vor allem auf der Suche nach spannend erzählten abgeschlossenen Handlungen sind, fanatische Andergast-Anhänger sowie Metaplot-Elitisten, die sich mit derlei Rand-Regionen grundsätzlich nicht abgeben möchten.
Zum Weiterlesen: Mehrer der Macht (Wiki Aventurica), Autorenseite Carolina Möbis (Wiki Aventurica), Ankündigung zum Roman bei Ulisses-Spiele, Rezension des Romans bei Neue Abenteuer.
18. Oktober 2015 at 15:06
Sehr unterhaltsame Rezension, vielen Dank. Den Roman hatte ich gar nicht auf dem Schirm, ist jetzt aber schon bestellt.
Ali ben Ali